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Unterwegs zu Fuss, die Kamera im Anschlag: Der belgische Künstler Pierre-Philippe
Hofmann sucht auf seinen langen Streifzügen das Repräsentative eines Landstrichs.
Im Gespräch mit Caspar Schärer beschreibt er seine Methoden und was
ihm in der Schweiz aufgefallen ist.
Herr Hofmann, was ist die konzeptionelle Grundlage
Ihrer künstlerischen Arbeit?
Ich bin ständig auf der Suche nach langfristigen Unternehmungen,
um mich besser in meiner künstlerischen
Arbeit verankern zu können. Dies ist unter anderem
eine Reaktion auf die gegenwärtige Tendenz – auch
in der Kunst –, alles Handeln als Folge eines Impulses
anzulegen. Während ich eine bestimmte Gegend zu
Fuss durchquere, lösen sich in meinem Kopf eine Menge
Gedanken, die der Alltag unter anderen Umständen
nicht hervorbringt. Im Unterschied zu anderen
wandernden Künstlern beziehen sich meine Projekte
aber auf die Darstellung der Landschaft und nicht auf
innere Zustände und Befindlichkeiten des Künstlers.
Hinzu kommt, dass uns immer mehr und immer bessere
technische Hilfsmittel zur Verfügung gestellt werden,
die gewiss beeindruckend, aber stets ungenügend
sind. Inzwischen werden fast keine Reisen mehr angetreten,
ohne zuvor im Internet detaillierteste Angaben
über den angepeilten Ort zu suchen. Die dadurch zugänglichen
Bilder vermitteln eine völlig gegensätzliche
Ansicht der Realität: Entweder sind sie wunderschön
oder scheusslich.
In Belgien sind Sie für Ihr Projekt «Lieux Communs
– Gemeenplaatsen» (2002–07) der Sprachgrenze zwischen
der flämischen und der wallonischen Region gefolgt.
Warum ausgerechnet diese Linie?
Bei allen Projekten von mir ist der Zwang ein erster
Ausgangspunkt. Ich brauche eine konzeptuelle Vorgabe,
ein Dogma, dem Gehorsam zu leisten ist. Der Verlauf
der Sprachgrenze erwies sich dahingehend als ideal:
Sie durchmisst Belgien auf seiner ganzen Länge und
zeigt die Vielfalt des Landes anhand zahlreicher verschiedener
Landschaften. Zudem meidet dieser Weg
die bekanntesten Orte, die zugleich die am wenigsten
repräsentativen sind; die historischen Zentren und die
Sehenswürdigkeiten stellen nur einen winzigen Teil des
Landes dar. Ich musste allerdings all jene enttäuschen,
die triviale politische Interpretationen in meine Arbeit
projizierten. Die Sprachenfrage ist in Belgien das dominierende
politische Thema, in meiner künstlerischen
Arbeit jedoch ganz und gar nicht.
Beschreibt die belgische Sprachgrenze eine scharfe
Linie? Wird im Dorf auf der einen Seite französisch gesprochen
und im Dorf nebenan flämisch?
Wenn man sich für die wirklichen Verhältnisse in
Belgien interessiert, findet man durchaus eine Durchlässigkeit
zwischen den beiden grossen Sprachgruppen.
So dehnt sich etwa die Hauptstadt Brüssel unaufhaltsam
in zuvor flämische Vororte aus. Der einstige Charakter dieser Gemeinden wird zunehmend von einer
frankofonen oder gar internationalen Bevölkerung verändert.
Die Politiker sind darüber beunruhigt und fordern
laufend eine klare Trennung. In den Medien findet
die Polarisierung jeden Tag aufs Neue statt: Jedes
Thema, das auch nur am Rande die Sprache betrifft,
dient als Vorwand für einen Vergleich zwischen Flamen
und Wallonen, der im Übrigen häufig belanglos
ist. Mein Buch «Gemeenplaatsen» erregte ein gewisses
Aufsehen, da die Journalisten hofften, darin polemische
Äusserungen zur Sprachenfrage zu finden. Vergebens:
Die Sprachgrenze ist für mich nur ein Vorwand, um
über Städtebau, Landschaft und Architektur in Belgien
zu sprechen.
Wie tritt die Grenze denn in Erscheinung?
Sie ist in Wirklichkeit viel stärker sichtbar, als auf
den Bildern, die ich gemacht habe. Wenn ich sie zum
Thema gemacht hätte, und damit zum Ziel eher als zum
Mittel, hätte ich mehr Zeit auf die Details verwenden
müssen. Die Bodenbedeckungen, die Farbe der Strassentafeln
und die Gestaltung des bebauten Geländes
ändern sich häufig, sobald man diese Linie überschreitet.
Wie gehen Sie ein so umfangreiches Projekt an?
Ich konnte nicht einfach im Westen an der französischen
Grenze beginnen und in gerader und kontinuierlicher
Linie nach Osten wandern. Die Planung meiner
Etappen war von den meteorologischen Verhältnissen
abhängig, da ich ein «klinisches» Licht, einen gleichmässig
grauen Himmel für die Bilder brauchte. In Belgien
ist dieses Licht sehr typisch, ausserdem wird so
das Bild lesbarer, ohne dass Lichtspiele es zu kontrastreich
machen. Dieses Licht – ebenso wie die Rahmung,
die ich verwende – gehört zum Dokumentarstil. Die
Strenge der Komposition, die frontale Aufnahme, alles
trägt dazu bei, den Eindruck einer Fotografie ab Stativ
zu erwecken, einer Fotografie, die im Studio aufgenommen
scheint.
Verfolgen Sie bestimmte Themen auf Ihren Touren?
Ich versuche grundsätzlich repräsentativ zu sein und
bearbeite deshalb keine spezifischen Themen. Ich muss
ein Gleichgewicht finden zwischen den Ackerflächen,
den Industriezonen, den Geschäftsvierteln, den Wohngebieten
und den Brachen.
Wieviele Bilder schiessen Sie und wie viele davon
wählen Sie schliesslich aus?
Beim Projekt «Lieux Communs – Gemeenplaatsen»
blieben 380 von über 10 000 Bildern. Wenn ich ein reiner
Konzeptkünstler wäre, würde ich alles ausstellen –
oder gar nichts. Als ThemenFotograf
müsste ich mich
vermutlich auf dreissig Bilder beschränken. Das Sortieren
der Bilder ist eine wichtige und zuweilen heikle
Aufgabe. Die erforderliche Vielfalt beeinflusst meine
Entscheidung, gewisse Bilder eher zu behalten als andere.
Ich will keine Region bevorzugen. Die Anzahl Bilder
ist also mit fast mathematischer Genauigkeit über
das gesamte Gebiet verteilt.
Zur Zeit sind Sie mit einer ähnlichen Arbeit in und
mit der Schweiz beschäftigt. Warum die Schweiz?
Die Schweiz war für mich immer eine zweite Heimat.
Ein Teil meiner Familie stammt aus Olten, und wir
haben immer noch starke Verbindungen zur Schweiz.
Ich fühle mich weder ganz fremd noch ganz zuhause.
Das versetzt mich in eine sehr günstige Lage für ein
solches Projekt. Die Schweizer Landschaft ist allerdings
für einen Künstler eine grosse Herausforderung, denn
es ist sehr schwer, sich nicht vom Malerischen vereinnahmen
zu lassen.
Zur Zeit sind Sie mit einer ähnlichen Arbeit in und
mit der Schweiz beschäftigt. Warum die Schweiz?
Ich hatte nie die Absicht, mich mit dem berühmten
Röstigraben zu beschäftigen. Die Unterteilung des
Landes in die Kantone erscheint mir ebenso wichtig
wie die verschiedenen Sprachgemeinschaften. Ich will
mich ganz auf die Landschaft konzentrieren und das
beste Mittel finden, um sie in einer repräsentativen Vielfalt
darzustellen. Wie sieht ein Theaterstück aus, wenn
man es von den Kulissen her und nicht mehr vom Zuschauerraum
aus betrachtet? Derartige Fragestellungen
führten dazu, dass ich von der Landesgrenze her acht
gerade Linien wie Strahlen zur Älggialp im Kanton Obwalden
zog, dem geografischen Zentrum der Schweiz.
Die Strahlen sind die Richtschnur für meine Märsche.
Sie bewegen sich also wieder zu Fuss fort?
Ja, das ist in diesem Land auch kein Problem. Ich
hatte von Anfang an den Eindruck, dass hier grosses
Gewicht auf die Fortbewegung zu Fuss gelegt wird.
Das dichte Netz des öffentlichen Verkehrs und der Wanderwege
fasziniert mich ungemein. Es reicht in den
hintersten Winkel, obwohl die Topografie überhaupt
nicht dafür geeignet ist! Manchmal frage ich mich, ob
bei der Erschliessung der Schweiz mit Brücken und
Tunnels nicht auch ein demonstrativer Durchsetzungswille
eine gewisse Rolle spielt. Belgien hatte in seinen
Glanzzeiten Anfangs des 20. Jahrhunderts massiv in
seine Infrastruktur investiert. Vor ein paar Jahrzehn ten
leistete sich das Land eine komplexe und leistungsfähige
Infrastruktur auf einem viel höheren Niveau als
manche Länder in jener Zeit. Heute ist das Strassennetz
schlecht unterhalten und zahlreiche Bahnlinien
wurden aufgehoben und die Bahnhöfe geschlossen.
Wie planen Sie die Routen entlang der acht Strahlen
zur Älggialp?
Der Ausgangspunkt der Strecken liegt immer an der
Landesgrenze. Wenn ich vom rein theoretischen Standpunkt
ausgegangen wäre, dass die sinnbildlichen Aspekte
eines Landes sich in seinem Zentrum konzentrierte,
hätte ich daraus schliessen können, dass der
Norden der Schweiz eher Deutschland gleichen würde,
der Westen Frankreich, usw. Das dominierende Bild der
Schweiz ist jedoch jenes der schneebedeckten Berge –
ich möchte aber möglichst alles Übrige auch sichtbar
machen! Das naive Vorurteil machte Lust, die Variationen
zwischen zwei bestimmten Punkten – (der Grenze
und dem Zentrum) – festzuhalten. Indem ich diesen
starren Linien folge, begegne ich der ganzen Vielfalt, die
ich für eine reiche Ernte benötige. Mich reizt der Gedanke,
Bilder aus dermassen unterschiedlichen Landschaften
zueinander in Beziehung zu setzen. Das Bundesamt
für Landestopografie hat mir eine Software zur
Verfügung gestellt, die es mir erlaubt, meine Strecken
sehr genau zu planen und sämtliche gekennzeichneten
Wege optisch sichtbar zu machen. Es ist immer wieder
verblüffend festzustellen, dass keine einzige Gegend
von Wanderwegen ausgenommen ist, vom Talgrund
bis zu den höchsten Gipfeln.
Wie kann die Schweizer Landschaft «repräsentativ»
dargestellt werden?
Phänomenologisch ist es unmöglich, ein Gebiet in
seiner Ganzheit zu erfassen, trotz aller technischen
Werkzeuge, über die wir mittlerweile verfügen. Mein
persönlicher Ehrgeiz beschränkt sich darauf, eine Auswahl
von ausreichend repräsentativen Proben oder Mustern
einer bestimmten Gegend darzustellen. Ich möchte
aber noch weiter gehen in meinem Versuch, ein Werk
zu zeigen, das fast unmöglich zu betrachten ist. «Lieux
Communs – Gemeenplaatsen» umfasste mehrere hundert
Bilder, die in einem Raster angeordnet waren. Das
klinische, gleichmässige Licht hielt diese Bilder zusammen.
In der Schweiz müssen die meteorologischen
Schwankungen sichtbar sein, sie gehören zur Landschaft.
Fotografie ist hier also nicht mehr ausreichend.
Deswegen mache ich neben den Fotos auch Filmaufnahmen.
Ausserdem fiel mir auf, dass sich die Schweizer
viel öfter im Freien bewegen als die Belgier. Das
Land ist zwar weniger dicht besiedelt, aber ich treffe
überall und fast jederzeit auf Menschen. Ich konnte
feststellen, dass es praktisch keine Flächen ohne Zuordnung
gibt, keine unerschlossenen Gebiete. Alles ist
nutzbar gemacht, funktionell, gestaltet, unter Aufsicht.
Es gibt in der Schweiz nirgends ein Niemandsland,
ein Terrain vague. Mit Videoaufnahmen kann ich das
menschliche Handeln in das Zentrum des Projekts stellen.
Ich wähle feste Einstellungen von einer Minute
Länge: Die Filme wirken wie Fotos, unbeweglich und
dann geschieht doch noch etwas, meist alltägliches: Jemand
geht langsam durch das Bild, ein Bus kommt an
oder dergleichen.
Sind Ihnen auf Ihren Streifzügen auch Unterschiede
in städtebaulicher Hinsicht aufgefallen?
Wie alles in der Schweiz wird auch der Städtebau
mit viel Strenge und Konsequenz gehandhabt. In der
Architektur werden einfache Formen bevorzugt; eine
begrenzte Anzahl von Bautypen beherrscht das Stadtund
Dorfbild. Es scheint, als sei alles von zwei Vorbildern
abgeleitet: vom traditionellen Holzhaus, dem
Chalet, und dem Würfel aus Beton und Putz. Zwischen
den beiden Extremen gibt es natürlich eine ganze Reihe
von Abstufungen. Der Mangel an Eigenart und Kühnheit
der Bauten wird ausgeglichen durch einen starken
Zusammenhalt im grösseren Massstab. Städte sind bis
auf wenige Ausnahmen verhältnismässig klein, doch
das macht sie nicht unbedingt kompakter. Häufig stos se
ich auf Felder, Weiden und Bauernhöfe mitten in einer
Kleinstadt.
In Belgien ist die Lage anders. Der Druck einer dichten
Besiedelung, eine deutlich weniger stabile Wirtschaftslage
und eine durch Kompromisse geschwächte
Planung sind Faktoren, die dem belgischen Städtebau
geschadet haben. Während das städteplanerische Modell
in der Schweiz dem Allgemeinwohl dient, überlassen
die belgischen Behörden den Raum zur Entfaltung
des Individuums, zum Nachteil einer systematischen
Entwicklung. Sobald man sich bezüglich Städteplanung
toleranter zeigt, entstehen zwar kühnere Bauten, allerdings
auf die Gefahr hin, dass ein angestrebter Zusammenhalt
verunmöglicht wird. Die Ergebnisse können
fürchterlich sein.
Ganz deutlich werden die Unterschiede zwischen
den beiden Ländern, wenn man sich die Gärten näher
anschaut. In der Schweiz sind die Grundstücke der Einfamilienhäuser
oft sehr einfach abgegrenzt: ein kleines
Mäuerchen, ein paar Büsche oder Hecken genügen. So
bleibt der Bezug zur Landschaft erhalten – der Schweizer
in seinem Haus möchte immer Teil der Umgebung
sein. In Belgien ist der Zweck einer Umzäunung nicht
nur eine Abgrenzung, sondern auch ein Sichtschutz, er
gewährt eine Privatsphäre, die dem Hausbesitzer ein
grosses Unabhängigkeitsgefühl verleiht. Durch diese
individuelle Abkapselung nimmt aber der städtebauliche
Makrokosmos erheblichen Schaden.
Lassen sich von Ihren Beobachtungen der Landschaft
und der Raumplanung Schlüsse auf den Zustand einer
Gesellschaft ziehen?
In der Schweiz konnte ich feststellen, dass die unterschiedlichen
sozialen Schichten den Orten nicht unbedingt
anzusehen sind. Betrachtet man nur die Landschaft
und die darin eingebetteten Ortschaften, wirkt
die Bebauung wie für eine einzige grosse Mittelschicht.
Aus dem Französischen von Elisabeth Soppera